Rechtsterroristische Bestrebungen in Hessen Teil 6 – Die 1990er: Eine neue Generation rüstet auf

Der damalige NPD-Landesvorsitzende Marcel Wöll bei einem Aufmarsch 2007 in Frankfurt

Der damalige hessische NPD-Landesvorsitzende Marcel Wöll bei einem Aufmarsch 2007 in Frankfurt

Infolge von Auflösungen und Verboten zahlreicher militanter Neonazi-Gruppen und -Zellen sowie der Inhaftierung führender Neonazis, ließ sich ab Mitte der 1980er vielerorts ein personeller und organisatorischer Umbruch innerhalb der militanten Rechten beobachten. Zahlreiche Kameradschaften wie die bundesweit agierende Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF) und die Freiheitliche Arbeiterpartei Deutschlands (FAP) um Michael Kühnen nutzten das im nationalistisch aufgeladenen Jubel der Wiedervereinigung entstandene Potential für den Aufbau einer extrem rechten Massenbewegung.

Die meisten Gewalttaten richteten sich Anfang der 1990er – vor dem Hintergrund der Debatten um die Änderung des Asylrecht – gegen Menschen mit Migratonshintergrund und Asylsuchende. Sinnbildlich hierfür stehen die Pogrome von Hoyerswerda (September 1991), Mannheim-Schönau (Mai 1992), Rostock-Lichtenhagen (August 1992) sowie der tödliche Brandanschlag von Mölln (November 1992).

Allein im Jahre 1992 wurden bei diesen Anschlägen 18 Menschen ermordet. Auch in Hessen verübten Neonazis zu dieser Zeit zahlreiche Brandanschläge. Den Höhepunkt erreichte diese Form des Terrors in den Jahren 1993 und 1994. Mit insgesamt 53 Anschlägen in zwei Jahren war Hessen im bundesweiten Vergleich (in Relation zur Einwohnerzahl der Bundesländer) nahezu am stärksten von solchen Gewalttaten betroffen.

„Eine Bewegung in Waffen“

Seit 1992 setze ein Teil der Szene, darunter Aktivisten der GdNF, verstärkt auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner in Form von „Anti-Antifa-Kampagnen“. Im damals bekanntesten Druckwerk Der Einblick (1993) fanden sich 250 Namen von politischen GegnerInnen und Organisationen, denen „unruhige Nächte“ angedroht wurden. Die Ermittlungen führten die Behörden u.a. zu GdNF-AktivistInnen aus Rüsselsheim und Wiesbaden.

Infolge einer weiteren Verbotswelle gegen militante Gruppen ab 1992, von der u.a. die Nationalistische Front (NF) (1992) und die FAP (1995) betroffen waren, setze ein Großteil der Szene auf das Konzept unabhängiger Kameradschaften. Andere orientierten sich an dem von Mitgliedern der FAP erarbeiteten Aufruf „Eine Bewegung in Waffen“.

Wenn auch in Hessen zu dieser Zeit keine rechtsterroristischen Anschläge verzeichnet werden mussten, offenbarten diverse Waffenfunde seit Mitte der 1990er, dass Teile dieser neu entstandenen Strukturen sich durchaus als Teil einer „Bewegung in Waffen“ verstanden.

So wurde im November 1994 im bayrischen Traunstein das, laut Polizeibericht, „größte Waffenlager seit 20 Jahren“ ausgehoben. Die Ermittler fanden bei den Mitgliedern eines Nationalen Einsatzkommandos (NEK) der NF, der Nachfolgeorganisation des VSBD (siehe Teil 3 der Reihe), „vier Maschinengewehre, 35 Maschinenpistolen und Schnellfeuergewehre, 92 Gewehre, 700 Pistolen, 40 Handgranaten, acht Kilo Plastiksprengstoff, 100 Zünder, eine selbstgebastelte Rohrbombe mit Zündschnur und 200 Kisten Munition“. Die Waffen sollten nach Frankfurt/Main und in den mittelhessischen Raum Wetzlar/Gießen geliefert werden.

Im gleichen Monat wurden die ErmittlerInnen auch im Frankfurter Stadtwald fündig. Das mit Sprengstoff, halbautomatischen Gewehren und Handgranaten gefüllte Waffendepot soll auf FAP-Mitglieder zurückgehen, die im Bosnienkrieg als Söldner in kroatischen Kampfverbänden gekämpft hatten.

Im Januar 1995 wurde im Zuge einer Reihe von Hausdurchsuchungen im südhessischen Viernheim im Haus eines NPD-Mitgliedes eine scharfe Handgranate gefunden. Im Mai 1995 stießen die Behörden bei Hausdurchsuchungen in mehreren Bundesländern, u.a. in Hessen und Baden-Württemberg, erneut auf Waffen. Im Haus des vorbestraften Hauptverdächtigen aus dem Rhein-Neckarkreis, fanden Fahnder Maschinengewehre, Handfeuerwaffen und Munition. Auch hier bestanden enge Kontakte zur hessischen Neonazis – darunter zu Aktivisten der GdNF und der Frankfurter Taunusfront.

Die 2000er: „Anti-Antifaschismus“ als militanter Aktionsschwerpunkt

Wenn auch der Einblick nur ein Projekt von kurzer Dauer war, fokussierten sich in Hessen militante Neonazis immer wieder auf die antifaschistische Szene. Im Juli 2003 stellten Polizeibeamte bei Mitgliedern der Nationalen Kameradschaft Frankfurt (NKF) Aufzeichnungen zur Durchführung von Wehrsportübungen und leichte Waffen sicher. Das Ziel der Gruppe: der Aufbau von schlagfähigen Anti-Antifa-Strukturen.

Die seit 2004 in Erscheinung getretenen Freien Nationalisten Rhein-Main (FNRM) führte diesen Kurs fort. Die Kameradschaft um Marcel Wöll (der 2006 NPD-Landesvorsitzender wurde), entwickelte sich schnell zur wichtigsten Gruppe der Militanten in Hessen. Das Zentrum der FNRM stellte seit 2005 eine „nationale Wohngemeinschaft“ in Butzbach-Hoch-Weisel dar. Dort fanden regelmäßige Schulungen mit überregionaler Bedeutung statt.

Im Jahr 2005 ermittelte die Frankfurter Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ gegen die FNRM. Zwar wurde das Ermittlungsverfahren 2006 wieder eingestellt. Ihre hohe Gewaltbereitschaft stellten die Mitglieder der Gruppe jedoch mehrfach unter Beweis. Während Wöll DemonstrantInnen vor seinem Haus in Hoch-Weisel mit einer Axt angriff, nahmen im August 2007 zwei der Gruppe nahestehende Neonazis aus dem Rhein-Main-Gebiet an Schießübungen in der Schweiz teil.

In Mittelhessen trat ab 2007 die Anti-Antifa Wetzlar in Erscheinung. Nach mehreren Übergriffen auf junge AntifaschistInnen verübten vier Mitglieder der Gruppe im Januar 2010 einen Brandanschlag auf das Haus eines Pastoralreferenten in Wetzlar.

In Nordhessen hatten die Freien Kräfte Schwalm-Eder (FKSE) mehrfach Jagd auf linksalternative Jugendliche gemacht, ehe ein weiterer Angriff für 13-jähriges Mädchen fast tödlich endete. Bei einem Überfall im Juli 2008 auf ein linkes Jugendcamp nahe Treysa hatte Kevin S. das in ihrem Zelt schlafende Mädchen mit einem Spaten beinahe erschlagen. Im September 2009 fanden Beamte im Rahmen von Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern der Gruppe Waffen und Anleitungen zum Bau von Rohrbomben.

Zu Funden von Schusswaffen kam es schließlich im Mai 2011 auf dem Grundstück von Patrick Wolf aus Echzell (Wetteraukreis).

Im Oktober 2013 fanden Ermittler in der Wohnung eines 35-Jährigen Mannes aus Schlüchtern Schusswaffen (samt Munition) sowie 500 Gramm Sprengstoff. Der im Juni 2014 (wegen krimineller Delikte) Angeklagte gab an, Mitglied einer SS-Kameradschaft Korps Steiner im Raum Fulda zu sein.

Regelmäßige Waffenfunde

Wenn auch in den vergangen zwei Jahrzehnten keine terroristischen Zellen in Hessen Anschläge verübten, verdeutlichen die hier aufgeführten Beispiele die hohe Gewaltbereitschaft, die in Teilen der hessischen Neonaziszene vorherrschte. In einigen der genannten Fälle hätte es unter anderen Umständen Schwerletzte oder Tote geben können. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Täter, wie auch jene, die sich Waffen oder Sprengstoff(-anleitungen) zu Eigen machten, dies billigend in Kauf nahmen oder darauf abzielten.

Dass die hier angeführten Fälle von Waffenbesitz bei Neonazis keineswegs einen umfassenden Überblick bieten, wird mit Blick auf das Ergebnis einer Anfrage im Innenausschuss des hessischen Landtages, vom Frühjahr 2013 deutlich. Das Innenministerium sprach im anvisierten Zeitraum (2002-2012) von 130 Fällen, in denen illegale Waffen bei Neonazis gefunden wurden. Darunter 17 Pistolen, zwölf Gewehre und 26 Stichwaffen. Zudem sei dreimal Sprengstoff sichergestellt und vier Verfahren nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz eingeleitet worden.

Dass nur ein Teil der Funde seitens der Strafverfolgungsbehörden und des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen (LfVH) öffentlich gemacht wurde, und das LfVH 2012 zu der Einschätzung kam, „rechtsextremistische Gewalt, auch in Hessen,“ erfolge „in der Regel spontan und situativ (häufig unter Alkoholeinfluss)“ (Bericht des LfVH 2011, 68), zeugt von einem fragwürdigen, öffentlichen Umgang, wie auch von einer weiterhin vorherrschenden Verharmlosung des Problems rechter Gewalt durch die zuständigen Behörden.

Anmerkung:

Hessen gilt seit Jahren als eines der ruhigsten Bundesländer hinsichtlich extrem rechter Aktivitäten, Straf- und Gewalttaten. Dies versucht die konservative Landesregierung alljährlich mithilfe ihrer Statistiken zu unterstreichen. Der Mord an Halit Yozgat im April 2006 in Kassel und die vermeintlichen Kontakte des NSU zu dem in Hessen lebenden Rechtsterroristen Manfred Roeder haben jedoch das scheinbar beschauliche Hessen ins NSU-Licht rücken lassen. Ein Blick in die Geschichte macht zudem deutlich: in Hessen lassen sich schon seit Jahrzehnten militante und terroristische Aktivitäten beobachten.

Eine Dokumentation militanter und rechtsterroristischer Bestrebungen in Hessen in mehreren Teilen

Teil 1: Der Technische Dienst http://www.infobuero.org/2013/06/rechtsterroristische-bestrebungen-in-hessen-teil-1-der-technische-dienst/

Teil 2: Manfred Roeder http://www.infobuero.org/2013/07/rechtsterroristische-bestrebungen-in-hessen-teil-2-manfred-roeder/

Teil 3: Die Radikalisierung der extremen Rechten in den 1970ern  http://www.infobuero.org/2013/09/rechtsterroristische-bestrebungen-in-hessen-teil-3-die-radikalisierung-der-extremen-rechten-in-den-1970ern/

Teil 4: Die Hepp-Kexel-Gruppe http://www.infobuero.org/2014/02/rechtsterroristische-bestrebungen-in-hessen-teil-4-die-hepp-kexel-gruppe/

Teil 5: Peter Naumann http://www.infobuero.org/2014/10/rechtsterroristische-bestrebungen-in-hessen-teil-5-peter-naumann/

Teil 6: Die 1990er http://www.infobuero.org/2015/01/rechtsterroristische-betrebungen-in-hessen-teil-6-die-1990er/